Längst sind digitale Zwillinge in industriellen Anwendungen keine Neuheit mehr. Als virtuelles Abbild von Produkten, Prozessen und Produktionsanlagen revolutionieren sie Abläufe entlang der gesamten Wertschöpfungskette und ermöglichen neue Geschäftsmodelle. Sie erlauben die Durchführung virtueller Analysen und Tests in allen Phasen des Produktlebenszyklus – von der Produktentwicklung über die Produktion bis zum Recycling. Mit den entsprechenden Daten werden beispielsweise Entwicklungszeiten verkürzt, Fertigungsprozesse optimiert und der Kundennutzen durch zusätzliche Dienstleistungen erweitert. Dies führt zu verkürzten Prozessen, reduzierten Kosten und neuen Umsatzmöglichkeiten für die Unternehmen. Das IT-Analyse- und Marktforschungsinstitut Gartner rechnet genau aus diesen Gründen damit, dass bereits 2021 die Hälfte der größeren Industrieunternehmen den digitalen Zwilling einsetzen und ihre Effektivität so um zehn Prozent steigern können. Um diese Potentiale zu heben, sind integrierte Informationssysteme notwendig, die einen durchgängigen Austausch zwischen den verknüpften digitalen Zwillingen zulassen. Um die breite industrielle Anwendung zu ermöglichen, muss ein konsistenter Rahmen geschaffen werden, in dem Schnittstellen und Datenstrukturen standardisiert sind. Dieser Rahmen wird durch das Konzept der Verwaltungsschale – im Englischen auch Asset Administration Shell (kurz AAS) genannt– realisiert.
Viele Unternehmen verwalten bis heute ihre Daten in unterschiedlichen Systemen und ohne die Definition von einheitlichen Datenformaten und Schnittstellen. Dies führt meist zu bekannten Problemen: Datensilos, Intransparenz und Informationsredundanzen. Kurzum: Daten liegen an den falschen Stellen, werden nicht genutzt oder sind sogar veraltet. Liegen diese Probleme bereits bei Legacy-Systemen – wie beispielsweise einem ERP-System vor – ist es nicht verwunderlich, wenn auch ein Netz aus digitalen Zwillingen an den Hürden anderer komplexer Informationssysteme scheitert. Genau an diesem Problem setzt der Rahmen aus standardisierten Schnittstellen und Datenstrukturen – die Verwaltungsschale – an. Sie ermöglicht die reibungslose Kommunikation zwischen verschiedenen digitalen Zwillingen und anderen angeschlossenen Systemen, auch über Grenzen von Unternehmen hinweg. Dies bedeutet, dass Zwillinge sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch in einem Verbund von Partnerunternehmen in die Lage versetzt werden, Informationen auszutauschen. Hieraus folgt eine schnelle Skalierung der Verwaltungssysteme. Die Bildung neuer Informationssilos wird verhindert.
Ein typisches Beispiel für die Verwendung von digitalen Zwillingen ist die prädikative Instandhaltung von Maschinen und Anlagen. Hierunter versteht man die Planung von Instandhaltungsmaßnahmen auf Grundlage von Zustandsdaten. Notwendig sind hierzu große Mengen an historischen Daten sowie Daten über den aktuellen Zustand der Maschine. Abgebildet wird der Zustand der Maschine über Sensordaten wie beispielsweise Leistungsaufnahme, Körperschall oder Drehfrequenzen. Die Speicherung der Daten in digitalen Zwillingen ermöglicht es, den Verschleißzustand einzelner Maschinen zu analysieren und einen idealen Zeitpunkt für die Instandsetzung zu ermitteln. Die Verwaltungsschale hält hierzu den notwendigen Rahmen für Maschinenbauer und Dienstleister bereit, um ihren Kunden einen einfachen Anschluss an eine Instandhaltungsplattform zu bieten. Durch die Vernetzung digitaler Zwillinge wären diese in der Lage, die prädikative Wartung als zusätzliche Dienstleistung anzubieten. Die Interoperabilität der digitalen Zwillinge befähigt Maschinen, eigenständig Ersatzteile und die Instandsetzung zu beauftragen. Auf Basis der vorhandenen Daten kennt das System bereits die kompatiblen Ersatzteile und ordert diese über den Hersteller im angeschlossenen Partnersystem nach. Die Instandsetzung selbst kann ebenfalls an entsprechende Dienstleistungsunternehmen vergeben werden. Die benötigten Pläne und Anweisungen zur Maschine können über die Verwaltungsschale bereitgestellt werden. Die AAS kann somit ein autonom agierendes System abbilden, in dem verschiedenste Interaktionen abgebildet werden. Wichtiger Faktor hierbei: Der Anschluss neuer Maschinen und Geräte an das System ist plug-and-play-fähig. Die Verwaltungsschale macht hier die aufwendige Konfiguration eines neuen digitalen Abbilds überflüssig, denn Kommunikationsschnittstellen und Datenstrukturen sind bereits bekannt.
Bis heute scheitern digitale Zwillinge und somit auch neue Geschäftsmodelle rund um den digitalen Zwilling an den Hürden von uneinheitlicher Kommunikation und fehlender Strukturierung der Daten. Die Verwaltungsschale schafft hier durch einen Rahmen aus Standards Abhilfe. Die wichtigsten Grundlagen für diesen Rahmen, sind durch die Plattform Industrie 4.0 – unter Leitung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung – bereits erarbeitet worden. Wissenschaft und Wirtschaft haben hier in Verbundprojekten bereits erste Demonstratoren aufgebaut und gezeigt, welch enormes Potential dahintersteckt. Nun ist es an der Zeit, die Diffusion der Verwaltungsschale in die Wirtschaft zu fokussieren, um neue Wettbewerbsvorteile für den Industriestandort zu generieren. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, geprägt vom Maschinen- und Anlagenbau, können hier einen echten Mehrwert für ihre Kunden erzielen. Aber auch IT-Dienstleister und Startups mit Fokus auf Maschinenvernetzung und Digitalisierung sollten die Verwaltungsschale als Chance nutzen, um neue Geschäftsmodelle zu realisieren. Hierbei sollten Pionierunternehmen voran gehen und Systeme entwickeln, welche durch Interoperabilität und einen möglichst hohen Integrationsgrat hinsichtlich Wertschöpfungspartner und Kunden geprägt sind. So werden die Geschäftsprozessen der Zukunft ermöglicht.
Stephan Wein und Florian Heinrich, Experten im Bereich Digitaler Transformation bei umlaut (Part of Accenture), beraten Kunden im produzierenden Gewerbe zum Einsatz von Digitalisierungs- und Automatisierungstechnologien. Hierbei steht der Einsatz digitaler Zwillinge im Fokus ihrer Arbeit.
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