Ein ERP-System wird oft als „zentrales Nervensystem eines Unternehmens“ bezeichnet. Hier werden alle Kernprozesse verwaltet, die zur Führung eines Unternehmens notwendig sind: Verkauf, Fertigung, Lagerverwaltung, Beschaffung, Finanzen und vieles mehr. Es besteht aus integrierten Modulen oder Geschäftsanwendungen, die miteinander kommunizieren und eine gemeinsame Datenbank nutzen.
Die Zahl der verschiedenen ERP-Lösungen ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Heute gehen Expert:innen von mehr als 500 ERP-Softwarelösungen aus – für kleine, mittlere und große Unternehmen und Konzerne, für unzählige Branchen, wahlweise aus der Cloud oder On-Premises. Viele dieser Lösungen haben teilweise eine sehr lange Entwicklungshistorie hinter sich (z. B. SAP, Navision, Oracle). Andere sind recht jung und neu auf dem Markt. Eines haben sie aber fast alle gemeinsam: Sie versuchen, einen möglichst hohen Standardisierungsgrad zu erreichen, um möglichst viele Unternehmen ihrer Zielgruppe bedienen zu können. Deshalb wurden und werden immer mehr Funktionen und Features hineingepackt, von denen man glaubt, dass sie die Software attraktiver machen, und vom Kunden benötigt werden. Die Anpassung des ERP-Systems an den einzelnen Kunden erfolgt dann über eine Parametrisierung. Einzelne Funktionen und Module des insgesamt überladenen Systems werden per Häkchen an- oder weggeklickt. Das funktioniert in den meisten Fällen bis heute so. Und funktioniert es einmal nicht, muss die Entwicklungsabteilung per Sonderprogrammierung umbauen oder der Kunde einfach seine Prozesse „ein wenig“ anpassen. Und je mehr Sonderprogrammierung entsteht, desto anfälliger wird das System bei Upgrades und Updates.
Für die Einführung und Anpassung der Unternehmenssoftware sind bis heute spezialisierte ERP-Berater:innen im Auftrag der Hersteller im Einsatz. Niemand sonst traut sich eine Parametrisierung der mächtigen Systeme zu. Und trotzdem schießen Projektzeit und -kosten regelmäßig über‘s geplante Ziel hinaus, wobei fast nie eine 100%ige Prozessabdeckung erreicht wird. Dies führte und führt zu einer immer höheren Unzufriedenheit bei Kunden und Druck bei den Herstellern. Ein Dilemma.
Dank modernster Datenbank- und Webtechnologien sowie Cloud-Computing ist die Lösung aus dem Dilemma ganz einfach. Man nehme viel ERP- und Prozesserfahrung, zerlege den typischen Aufbau von ERP-Applikationen in kleine Bausteine und setze sie auf einer grafischen Benutzeroberfläche (GUI) per Drag & Drop zu einem Prozess und dann mehrere Prozesse zu einer ERP-Lösung zusammen.
Um diese Vorgehensweise einfach zu erklären, nutze ich eine Analogie aus der Spielzeugwelt.
Sie kennen sicher das Klemmbausteinsystem eines dänischen Spielzeugherstellers. Dieser hat sein System so hochgradig standardisiert, dass mit dem Basis-Set aus Bausteinen beispielsweise ein ganzes Haus gebaut werden kann. Zudem passen garantiert neue Steine auf alte Steine.
Die Grundsteine sind wie die kleinsten Bausteine einer ERP-Software, die man logisch zu einem Prozess verknüpft.
Ein Beispiel: Für die Generierung eines DHL-Versandlabels werden folgende einzelne Bausteine genutzt:
Aufgrund der langjährigen Erfahrung im ERP-Bereich kennen wir die typischen, immer wiederkehrenden Prozesse in einem Unternehmen, sodass aus einzelnen Bausteinen bereits eine Vielzahl fertiger Abläufe aufgebaut wurden. Das können mehrere Schritte sein, wie z. B. der Druck eines DHL-Labels als Prozess oder ganze Module, wie z. B. der Rechnungsdruck. Die Summe der fertigen Prozesse in unterschiedlichen Detailgraden ist dann unser „Base-Template“. Um noch mal den Vergleich zum Klemmbausteinsystem heranzuziehen: Wir haben aus einigen Bausteinen bereits eine Garage, ein Dach oder ein Auto gebaut. Damit wird der Hausbau um ein Vielfaches schneller. Der Clou: Wie beim Spielzeug können wir jeden fertigen Prozess wieder in seine Einzelteile zerlegen und anders zusammenbauen.
Um die einzelnen Bausteine oder Prozesse zusammenbauen, nutzt man die grafische Benutzeroberfläche einer Low-Code-Plattform. Nutzer:innen können sich nun aus dem Set an Bausteinen und fertigen Prozessen die passenden rausfischen und per Drag & Drop zu größeren Prozessen und letztendlich zur neuen ERP-Lösung zusammenklicken. Das Zusammenbauen übernimmt in der Regel ein Team, bestehend aus ERP-Berater:in (nicht Programmierer:in) und Expert:in aus dem betreffenden Unternehmen, der/die die internen Prozesse kennt.
Die meisten Low-Code-Plattformen werden in der Cloud betrieben und sind als „Software-as-a-Service“ (SaaS) konzipiert. Es gibt jedoch auch Low-Code-Plattformen, die On-Premises installiert werden können.
Interessant ist die Art und Weise, wie der Programm-Code in diesen Low-Code-Plattformen erzeugt wird. Bei einigen Systemen wird im Hintergrund von einem Algorithmus „wie von Geisterhand“ ein Code geschrieben, der kompiliert wird und dann ausführbar ist. Der jeweilige Algorithmus wird dazu einmal entwickelt und bildet danach das Herzstück der Plattform.
Viel spannender ist jedoch die Variante, bei der zunächst kein ausführbarer Code generiert wird. Vielmehr werden alle erforderlichen Informationen in Textdateien (zum Beispiel JSON) in einer SQL-Datenbank abgelegt. Wenn Nutzer:innen die Webseite aufrufen, interpretiert der Webserver die Informationen, rendert den Code für die Webseite „on the fly“ und sendet diese an den Client zur Darstellung im Browser.
Mithilfe einer solchen Low-Code-Entwicklungsplattform sind Unternehmen jetzt in der Lage, den gesamten Entwicklungsprozess einer ERP-Lösung neu aufzusetzen. Aus einer starren Software-Architektur wird so ein modernes und schlankes Baukastensystem. Die Vorgehensweise, vorgefertigte Bausteine zu nutzen und alle Prozesse auf der Oberfläche zusammenzuklicken, führt dazu, dass die Entwicklung einer ERP-Lösung bis zu 10-mal schneller ist als die Anpassung einer Standardsoftware. Üblicherweise ist eine erste Version in wenigen Wochen fertiggestellt – auf das jeweilige Unternehmen zugeschnitten.
Low-Code ist ein vielversprechender Ansatz, um zentrale Unternehmensanwendungen schneller, flexibler und passender zu entwickeln. Gleichzeitig wird Low-Code den klassischen Entwicklungsweg auch nicht gänzlich ersetzen können.
Sven Lüttgens (44) ist CEO der GEBRA-IT GmbH. Er verfügt über 20 Jahre Erfahrung im ERP-Bereich. Seine Karriere führte ihn von der Hotline-Unterstützung über Beratung und Projektmanagement bis hin zur Position des COO des nordamerikanischen Beratungsteams in Chicago. Die ERP-Implementierungen in verschiedenen Branchen brachten ihn zu Projekten in Europa, Asien, den USA und Afrika. 2015 gründete er zusammen mit Udo Hensen das Aachener Softwarehaus GEBRA-IT GmbH.
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