Der Aachener Industrieanlagenanbieter INTRAVIS wurde 1993 von Dr. Gerd Fuhrmann gegründet und ist seither stetig gewachsen. Als Marktführer für optische Prüfsysteme für Kunststoffverpackungen beschäftigt das Unternehmen heute über 200 Mitarbeiter:innen. INTRAVIS ist auf den ersten Blick ein klassisches mittelständisches Maschinenbauunternehmen, das aber, wenn man genauer hinschaut, strukturell eine Besonderheit aufweist: Die HR-Abteilung ist seit zwei Jahren selbstorganisiert und hat keine Abteilungsleitung. Das bedeutet konkret: Das fünfköpfige HR-Team arbeitet eigenverantwortlich und autonom zusammen und verfügt zudem – innerhalb eines von der Geschäftsführung gesteckten Rahmens – über hohe Entscheidungsbefugnisse. Es kann ausgerichtet an den Unternehmenszielen seine eigenen Ziele setzen, Arbeitsmethoden bestimmen und Lösungswege entwickeln. Flache Hierarchien, hohe Entscheidungsbefugnisse, viel Freiheit – das mag erstmal für viele Arbeitnehmer:innen verlockend klingen. Aber ganz so einfach ist der Weg dahin nicht.
Um mehr darüber zu erfahren, wie es bei INTRAVIS zu dieser Entscheidung kam, welche Erfahrungen das HR-Team auf diesem Weg gesammelt hat und welche Rolle der digitalHUB Aachen dabei spielte, haben wir mit Lisa Florack und Lena Ollfisch aus dem HR-Team, Inge Schiffer – damals CFO und Bereichsleiterin bei INTRAVIS und Petra Großmann, Coach & Consultant im digitalHUB Aachen gesprochen.
Inge Schiffer verantwortete bei der INTRAVIS GmbH zu dem Zeitpunkt als CFO den Bereich Corporate Services, inzwischen ist sie in die Stabstelle Organisationsentwicklung Digitalisierung gewechselt. Durch einen Zufall stieß sie auf die New-Work-Konzepte des französischen Coaches und Beraters Fréderic Laloux, insbesondere sein Buch “Reinventing Organizations” beeinflusste sie stark.
„Es war für mich ein großer Augenöffner, dass Teams auf diese Weise organisiert werden können – ich komme aus der klassischen Betriebswirtschaft und hatte bis dahin mit diesem Ansatz noch keine Berührungspunkte“, berichtet sie.
Durch seine Bereichsleiterin sowie die New Work Masterclasses im digitalHUB war auch die HR-Abteilung bei INTRAVIS mit New-Work-Themen und dem Modell von selbstorganisierten Teams vertraut. Nach Ausscheiden der damaligen HR-Abteilungsleiterin im Frühjahr 2021 fasste das HR-Team gemeinsam mit seiner damaligen Bereichsleiterin Inge und der Geschäftsführung den Entschluss, künftig selbstorganisiert zu arbeiten.
„Die Idee und der Wunsch kamen aus dem Team, aber die Kolleginnen wussten natürlich, dass ich für diese Idee sehr offen sein würde. Zu Beginn habe ich eine ‚Brandrede‘ gehalten und die Kolleginnen gefragt, ob ihnen klar ist, worauf sie sich einlassen und sie dafür sensibilisiert, dass sie alle bereit sein müssen, Verantwortung zu übernehmen und selbst Entscheidungen zu treffen“, erzählt Inge.
Das Team entschied, sich auf den Weg in die Selbstorganisation von den Coaches und Consultants aus dem digitalHUB Aachen Petra Großmann und Dr. Miriam Zeichner begleiten zu lassen. Ende 2021 fand dann der gemeinsame Kick-off-Workshop statt.
Schnell war klar: Einfach ist der Schritt in die Selbstorganisation nicht. Da das HR-Team schon unter der Abteilungsleiterin sehr selbständig arbeiten konnte, viele Entscheidungen selbst treffen durfte und nicht „gemicromanaged“ wurde, brachte es schon sehr gute Grundvoraussetzungen mit. Dennoch seien in der neuen Situation ohne Abteilungsleiterin viele neue Aufgaben auf sie zugekommen, auf die niemand vorbereitet und in die niemand bis dahin eingearbeitet war, berichten die beiden HR-Mitarbeiterinnen.
„Wir verteilten zu Beginn alle Aufgaben, die bislang unsere Abteilungsleiterin übernommen hatte, unter uns auf. Es kamen immer wieder neue Themen hinzu, denen wir uns gestellt haben. Dabei setzten wir uns immer wieder mit unseren Stärken auseinander und beratschlagten über die Aufgabenverteilung und Entscheidungsspielräume. Jede von uns war dabei regelmäßig gefragt, ihre Komfortzone zu verlassen und Neues zu lernen”, berichtet Lisa.
„Auch wir als Team mussten uns neu finden. In der Phase war es superwichtig, dass wir uns Zeit für uns nehmen. Dabei war die Unterstützung durch Miriam und Petra besonders wertvoll, sie haben uns Zeit und Raum gegeben, über Themen zu sprechen, die im Arbeitsalltag untergehen” sagt Lena.
Im ersten Jahr der Selbstorganisation traf sich das HR-Team einmal im Monat mit Petra und Miriam, die bei jedem Treffen ein neues Thema aus den Bereichen New Work, Selbstorganisation und Zusammenarbeit im Team mitbrachten. Dabei wurden auch individuelle Themen und Herausforderungen der HR-Mitarbeiterinnen berücksichtigt. Gestartet wurde mit dem Thema Rollen und Persönlichkeiten im Team.
„Ein Wendepunkt für mich war, als ich verstanden habe, dass wir nicht ohne Führungskraft arbeiten, sondern, dass jede einzelne von uns die Rolle der Führungskraft für sich selbst übernommen hat, gleichzeitig sind wir alle füreinander Führungskraft“, berichtet Lena.
Ein weiterer Workshop beschäftigte sich mit dem Thema Entscheidungsfindung und den damit verbundenen Konsequenzen. Es ging darum, wie Entscheidungen getroffen werden, welche Tools genutzt werden können und welche Arten von Entscheidungen es gibt. Auch der Workshop zum Thema „Zusammenarbeit im Team“ brachte wertvolle Erkenntnisse, die das HR-Team bei der Etablierung seiner neuen Meetingkultur und Meetingstruktur nutzte. Die Moderationsrolle der HR-Meetings wechselt nun wöchentlich, es gibt ein Meeting Check-in und Check-out, Feedbackregeln und am Ende jeder Woche einen gemeinsamen Wochenrückblick, in dem die Kolleginnen besprechen, was gut gelaufen ist und was verbessert werden kann.
„Wir haben diverse Tools im Rahmen der Workshops kennengelernt, uns eingelesen, vieles ausprobiert und individuell an unser Team angepasst, aber teilweise auch wieder verworfen, wenn sie nicht zu uns gepasst haben. Es gibt nicht die Standardlösung für ein selbstorganisiertes Team”, sagt Lisa.
Ein wichtiges Thema und eine Herausforderung sei auch das Thema der Sichtbarkeit der neuen Struktur der HR-Abteilung im Unternehmen gewesen. Denn als selbstorgansiertes Team im klassisch hierarchisch organisierten Unternehmen zu arbeiten, erfordert Kommunikation und Aufklärung. Nach dem Wegfall der Abteilungsleiterin war einigen Mitarbeiter:innen und Führungskräften bei INTRAVIS zunächst nicht klar, an wen sie sich wenden können.
„Führungskräfte sind vorher immer zur Abteilungsleitung gegangen, wenn sie ein Anliegen hatten. Daher gab es dann Unsicherheiten bei Führungskräften, wen sie jetzt ansprechen sollten. Sie mussten sich erstmal daran gewöhnen, dass sie sich an jede aus dem Team richten konnten. Wir haben zwar alle unsere Schwerpunkte, sind aber alle ansprechbar und leiten dann die Aufgabe in unserer Runde weiter. Das hat schnell funktioniert und wir waren stolz, dass Führungskräfte auf uns zugekommen sind, uns ernst genommen haben und uns nach Rat gefragt haben,“ erzählt Lisa.
Nicht nur für das selbstorganisiert arbeitende Team, auch für Führungskräfte sei der Schritt in die Selbstorganisation eine Herausforderung, berichtet Inge:
„Das Loslassen und die Verantwortungsübergabe sind nicht einfach. Man hat den Prozess ja häufiger, wenn man zum Beispiel als Führungskraft neue Abteilungsleiter:innen einstellt. Dann muss man jemandem vertrauen, aber jetzt musste ich einer ganzen Gruppe vertrauen. Und ich wusste gar nicht genau im Detail, wie das Team arbeitet – das ist nochmal ein ganz anderer Schritt.“
Nach über einem Jahr Begleitung fand im Frühjahr 2023 der Abschlussworkshop der HR-Abteilung mit den beiden digitalHUB-Coaches statt. Lena und Lisa ziehen ein sehr positives Resümee:
„Für mich persönlich ist die Arbeit im selbstorganisierten Team genau das richtige. Es ist eine Mischung aus Führungskraft sein und gestalten können, aber gleichzeitig ist und bleibt man immer Teil des Teams“, sagt Lena.
Lisa ergänzt: „Für uns war der Weg in die Selbstorganisation genau der richtige. Die Begleitung durch Petra und Miriam war dabei eine sehr sehr große Stütze.“
Auf die Frage, ob der Weg hin zur Selbstorganisation und der Transformationsprozess mit dem Abschlussworkshop nun beendet sei antwortet Lisa: „Der Abschlussworkshop war ein Meilenstein, an dem wir zurückgeblickt und uns vor Augen geführt haben, was wir alles geschafft haben. Aber auch mit der Einstellung: Es ist niemals vorbei. Wir müssen weiter an uns und unserer Zusammenarbeit arbeiten.“
Schon stehen neue Herausforderungen an, denn Teams sind immer dynamisch. Lisa geht in Kürze in den Mutterschutz, es gibt einen neuen Bereichsleiter, da Inge ihre Funktion im Unternehmen gewechselt hat und außerdem müssen neue Kolleginnen und Kollegen ins Team integriert und an die Selbstorganisation herangeführt werden.
Doch klar ist: Für die HR-Abteilung von INTRAVIS hat sich der Schritt in die Selbstorganisation absolut gelohnt.
„Durch die Chance, dass wir uns so intensiv mit unserem Team und mit Methoden der Zusammenarbeit auseinandersetzen durften und gleichzeitig gemeinsam so viel Verantwortung übernehmen konnten, sind wir alle fachlich und persönlich sehr gewachsen“, resümiert Lena.
Ein selbstorganisiertes Arbeiten eigne sich übrigens nicht für jedes Unternehmen und für jedes Team, denn die Mitarbeiter:innen müssten eine hohe Bereitschaft mitbringen, sich mit sich selbst und dem Team auseinanderzusetzten, erklärt Petra zum Abschluss. Die große Chance des selbstorganisierten Arbeitens und der intensiven Auseinandersetzung mit dem Team liege allerdings darin, dass dadurch besonders erfolgreiche Teams entstehen:
„Denn es geht nicht darum, die besten Performer mit den besten Universitätsabschlüssen im Team zu haben, sondern erfolgsentscheidend ist vielmehr, wie die Menschen zusammenarbeiten, ob sie einander vertrauen. Klar hilft es, wenn du fachlich gut bist. Aber es ist nicht die Fachlichkeit, die die Teams zum Erfolg führt“, sagt Petra.