Wie verändern sich Unternehmenskulturen unter dem Druck der digitalen Transformation? Was macht das mit den Menschen, die darin arbeiten? Wie macht man seine Unternehmenskultur für die Zukunft fit? Und vor allem: Wie mache ich das als kleines oder mittleres Unternehmen in der Region Aachen? Antworten darauf gab jetzt der zweite digitalCulture Day – #dcd19, der von der Fokusgruppe „Digital Culture“ des digitalHUB Aachen e.V. konzipiert wurde.
„Wir sagen immer, wir wollen digital missionieren. Selten passt das Thema so gut dazu wie heute – denn es geht um die Menschen“, begrüßte Dr. Oliver Grün, Vorstandsvorsitzender des digitalHUB Aachen und Präsident des BITMi e.V., die 150 Teilnehmer in der digitalCHURCH an der Jülicher Straße. „Vor wenigen Jahren war der Hauptfaktor bei der Digitalisierung noch die Technologie, aber inzwischen tritt der Faktor Mensch immer mehr in den Vordergrund“, führte Grün aus: „Deswegen ist die Unternehmenskultur eine der größten Hürden auf dem Weg zur digitalen Organisation. Es geht dabei also vor allem um die Frage: Wie können wir die Menschen mitnehmen?“ Gemeinsam mit Markus Bau, Director Digital Marketing der TEMA AG und Sprecher der Fokusgruppe „Digital Culture“, eröffnete er am Mittwochnachmittag den #dcd19. „Wir wollen das Thema Unternehmenskultur von möglichst vielen Seiten beleuchten lassen, um jedem Inspiration und Denkanstöße mitzugeben“, sagte Bau in Hinblick auf die insgesamt acht Experten-Vorträge der Veranstaltung, die von Nina Leßenich, Leiterin der Onlineredaktion beim Zeitungsverlag Aachen, moderiert wurde.
„Ohne neue Managementmodelle wird es nicht funktionieren“, sagte Günther Tolkmit, Urgestein der deutschen IT und Rollenmodell eines Machers der Digitalisierung. Mit seinem Impulsvortrag „Digitalisierungs-Paralyse – wie kommen wir wieder aus diesem Loch?“ bildete er den Auftakt zum diesjährigen #dcd19. „Die Digitalisierung, die schon seit den 70ern läuft, ist kein Schnupfen, der einfach wieder verschwindet“, mahnte er und sagte: „Software wird das Lebensblut unser aller Unternehmen.“ Sein Ansatz: Unternehmer müssen „Softwareinstinkte“ erlernen.
„Digitalisierung bedeutet, dass jedes Unternehmen zu einem Softwareunternehmen wird“, erläuterte Tolkmit. „Die Unternehmens-IT hat aber nicht mehr als zehn Prozent freie Kapazität und ist damit nicht handlungsfähig.“ Damit diese Hürde überwunden werden könne, sollten IT-Projekte wie kommerzielle Produkte getrieben werden. Auch die Entwicklung einer „High Frequency Software“-Kultur sei unerlässlich: „Software ist das neue Lebensblut von Firmen und Softwarefreigaben sind der neue Herzschlag.“ Wie aber können Unternehmen feststellen, dass sie auf dem richtigen Weg sind? Tolkmit nannte zahlreiche Indikatoren: Führe ich alle wichtigen Software-Projekte als Produkt mit „Product Managern“? Gebe ich wichtige Software regelmäßig frei – das heißt vierteljährlich oder sogar monatlich – und wende ich dabei DevOps-Prinzipien an? Manage ich klassische und neuartige Software aus einer Hand? Lebe ich agiles Vorgehen? Auch die Verwendung von neuen Technologien wie Cloud, Big Data, Artificial Intelligence, IoT und Mobile seien Indikatoren dafür, dass sich das Unternehmen mit Dingen auseinandersetzt, die automatisch eine gewisse Veränderung im Unternehmen mit sich bringen. Zu guter Letzt riet er den Teilnehmern, keine Angst zu haben: „Einfach anfangen und machen“, sagte er. „Und wenn man auf die Nase fliegt, wieder aufstehen und weitermachen. Es ist keine Magie, nur ungewohnt!“
„Inhabergeführte Unternehmen im Mittelstand beauftragen schwerpunktmäßig das, was sie verstehen“, erklärte Dr. Markus Toporowski, zweiter Keynote-Speaker des #dcd19, der in Aachen studiert und zwei Jahrzehnte Erfahrung als CTO, COO und CFO sowie in der Beratung von Führungskräften in Veränderungsprozessen hat. Seinen Impulsvortrag betitelte er mit einem Appell an die Gesellschafter der Unternehmen: „Lernen Sie „dumme“ Fragen zu stellen, denn wenn Sie „Digitalisierung“ nicht verstehen, dann lassen Sie derartige Projekte.“ Aber wie packt man das große Thema Digitalisierung im Unternehmen überhaupt an und wie bekommt man die Menschen mit an Bord? Im Rahmen des #dcd19 erzählte Toporowski von den größten Hürden und verriet, wie Unternehmen ihre Unsicherheit im digitalen Urwald überwinden und systemisch anpacken können. Denn: „Digitalisierungsprojekte sind nicht nur IT-Projekte, sondern vor allem auch Veränderungsprojekte, die mitunter massiv in die Kultur eines Unternehmens eingreifen.“
Die Unternehmenskultur und die Menschen seien daher die wichtigsten Komponenten, wenn es um Digitalisierungsprojekte geht: „Ich habe noch nie gesehen, dass ein Projekt hart an der IT oder Technologie gescheitert ist, es waren immer Menschen.“ Eine Voraussetzung für erfolgreiche Digitalisierung sei, dass nutzbares und notwendiges Wissen aus den Köpfen der Mitarbeiter in die Systeme gebracht werde. Außerdem: eine Vertrauenskultur, damit „frühzeitig über Fehler und Risiken gesprochen wird“. Toporowski sprach auch deutlich über die Veränderungen für die Belegschaft – in vielen Fällen auch Personalabbau. „Wie erkläre und kommuniziere ich die Veränderung? Und wie trenne ich mich von Teilen meiner Belegschaft?“ Er gab zu bedenken, dass die verbleibenden Menschen dann für die Qualität im Unternehmen verantwortlich seien: „Wie gehe ich also mit diesen Mitarbeitern um? Wenn ich mich unsauber trenne, dann sehen die Mitarbeiter, die übrig bleiben, was passiert, wenn die nächste Digitalisierungsstufe kommt.“
Orientierung zu geben, das sei das wichtigste: „Das ist Aufgabe der Gesellschafter und Geschäftsführer und lässt sich nicht delegieren.“ Die Kultur sei dabei nicht gezielt steuerbar, entscheide aber über den Erfolg oder eben Misserfolg des digitalen Wandels im Unternehmen. Die ersten Schritte: gemeinsame Reflexionsschleifen integrieren und nicht nur kommunizieren, was gemacht wird, sondern auch warum und wie. Geschäftsführer sollten parallel mitlernen und dabei gegenseitiges Verstehen und Vertrauen aufbauen: „Und dazu gehört eben auch, dumme Fragen zu stellen!“
Im zweiten Teil des Events erfuhren die Teilnehmer von Aachener Unternehmern, wie sie das große Thema Digitalisierung konkret anpacken und die Menschen dabei mit an Bord nehmen. Über neuartige Kollaborationsansätze eines jungen Unternehmens sprach Lars Exeler, Vertriebsleiter der Modell Aachen GmbH.
Während Exeler aufzeigte, dass eine Fehlerkultur das Ausprobieren ermöglicht und wie wichtig es ist, gemeinsam Spielregeln zu entwickeln (und zwar immer wieder), berichtete Wolfgang Pauels, Chief Digital Officer der Stadt Aachen und Referent des Oberbürgermeisters, vom digitalen Wandel in der öffentlichen Verwaltung. Die spannende Frage: Können wir hier schon von „Kultur“ sprechen oder verharren wir noch in einem „Kultur-Schock“? Drei große Herausforderungen nannte er: die Erwartung der Gesellschaft, 24/7 erreichbar zu sein, möglichst zu erfüllen, der Fachkräftemangel und der demografische Wandel sowie die gesetzlichen Vorgaben von Bund und Land, wie etwa die „digitale Aktenführung“ einzuführen. „Wir müssen daran arbeiten“, erklärte Pauels. „Aber wenn wir von digitalem Wandel sprechen, reden wir davon, dass wir den Mitarbeitern noch mehr zumuten. Wir versuchen, sie langsam heranzuführen, mitzunehmen und ihnen frühzeitig ihre Ängste zu nehmen.“ Was die öffentliche Verwaltung dafür brauche: Zeit und Geld. „Wenn wir den digitalen Wandel vorantreiben wollen, dann ist das kein Sprint, sondern ein Marathon.“
Thomas Mathes, Geschäftsführer und Inhaber der Mathes GmbH & Co. KG, gewährte gemeinsam mit Martin Möller, Geschäftsführer von Design Bestseller, einen tiefen Einblick in das Aachener Familienunternehmen, das zwei Geschäftsmodelle erfolgreich unter einem Dach betreibt: den traditionellen Möbelhandel sowie den Online-Handel. Wie finden diese kulturell zusammen und was lernen sie voneinander? Welche Herausforderungen gab es und welche Hürden stehen gerade noch bevor? „Wir bewahren die Tradition und nutzen die neu gewonnene digitale Kompetenz, um neue Märkte und Zielgruppen zu erschließen“, berichtete Möller. „Die Kunst ist die Gleichzeitigkeit – auf der einen Seite den Weg freizumachen und als Geschäftsführer loszulassen, auf der anderen Seite einen Rahmen zu geben“, ergänzte Mathes.
Stefanie Peters, Geschäftsführende Gesellschafterin der NEUMAN & ESSER GROUP, nahm die Inhaberfamilie genau unter die Lupe: Welchen Beitrag kann und muss sie auf dem Weg in die digitale Transformation leisten? Wie erreicht man das Ziel, auch in hundert Jahren noch ein erfolgreiches Familienunternehmen zu sein? „Wir machen das, was wir schon seit Jahrzehnten tun“, berichtete Peters, die das Unternehmen seit 2007 gemeinsam mit ihrem Bruder in vierter Generation führt. „Die Entwicklung vom Maschinenbauer zum Lösungsanbieter und vom Einzelunternehmen zur Unternehmensgruppe waren wichtige Schritte“, erzählte sie. „Jetzt arbeiten wir daran, weiterhin eine innovative und wandlungsfähige Unternehmenskultur zu schaffen. Gleichzeitig sind wir die Hüter unserer Unternehmenswerte.“
Direkt aus dem „Digitalisierungsalltag“ berichteten außerdem Tobias Ell, Vorstand der Carpus+Partner AG, sowie Dr. Martin Hiester, Unternehmensentwickler der nesseler bau gmbh. Ell, der sich auf die Zukunft mit all seinen Möglichkeiten freut, stellte fest: „Es hilft nicht, Angst zu haben.“ Die Frage sei vielmehr: „Was wollen wir daraus machen? Was wollen wir sein?“ Hiester hingegen teilte seine Erfahrungen zur eigenen „digital culture“ in der nesseler grünzig gruppe unter dem Motto: „Alles beim Neuen!“
Er definierte vier Charaktere: die „Pros“, die beim Thema Digitalisierung Feuer und Flamme sind, die kleine „Contra-Fraktion“, die absolut dagegen ist, das breite Mittelfeld, das gut mitmacht, und die wenigen Exoten, die irgendwie immer eine Lösung finden. „Es ist wichtig, alle Mitarbeiter in ihren unterschiedlichen Positionen von Anfang an mit einzubeziehen und sie nicht zu überfordern“, formulierte er die Erfahrung des Bauunternehmens. „Man muss die richtigen Mitarbeiter für die Testläufe gewinnen – dann nimmt der Wandel im Unternehmen Fahrt auf.“
Dass sich die Teilnehmer vom #dcd19 inspirieren ließen, zeigte das Ergebnis der Online-Umfrage, die jeweils zu Beginn und am Ende der Veranstaltung durchgeführt wurde: „Die acht Beiträge konnten die Teilnehmer davon überzeugen, dass die Unternehmenskultur in Zeiten der digitalen Transformation mehr Treiber als Last ist und dass sie uns nützt“, schloss Fokusgruppensprecher Markus Bau den #dcd19.
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