Workforce Augmentation: Wird der Mensch durch KI obsolet?

Bei der digitalen Transformation spielt Automatisierung eine entscheidende Rolle. Insbesondere in Bereichen wie der Sachbearbeitung, dem Rechnungswesen oder der Kundenbetreuung sind Unternehmen auf eine hohe Effizienz ihrer eigenen Prozesse angewiesen, um langfristig am Markt bestehen zu können. So sollen Prozesse durch moderne ERP-Systeme gestützt werden oder Aufgaben an Software-Roboter (RPA) übergeben werden. Für die Probleme, die sich nicht mit einfachen Regeln automatisieren lassen, etabliert sich immer mehr die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI). Schnell tritt die Frage in den Vordergrund, ob in Zukunft denn wirklich alle Prozesse durch künstliche Intelligenz automatisierbar sein werden und der Mensch gar obsolet wird.

Die Antwort darauf lautet „nein“, denn noch immer scheitert künstliche Intelligenz in der Praxis bei komplexen und auch individuellen Prozessen. Dennoch ergibt sich aus der Zusammenarbeit zwischen selbstlernender Maschine und Mensch ein Potenzial, welches auch für mittelständische Unternehmen enormen Mehrwert bietet, und durch neue Technologien genutzt werden kann.

Menschen haben die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen

Um zu sehen, wo die Grenzen des Einsatzes von künstlicher Intelligenz sind, kann man Entscheidungsprozesse, die das sogenannte „Commonsense Reasoning“ einschließen, betrachten.

Ein einfaches Beispiel aus dem Versicherungsumfeld: Wenn ein Kunde bei der Versicherung anruft und einen Wasserschaden durch Überflutung eines nahegelegenen Flusses meldet, dann kann ein Mensch den Wahrheitsgehalt dieser Aussage sehr schnell einschätzen, indem er beispielsweise prüft, ob das Haus an einem Fluss gelegen ist und ob das Wetter für den Meldezeitraum starken Regenfall aufweist. Dies ist für Menschen sehr intuitiv und kann durch gesunden Menschenverstand erfolgen, wohingegen dieser Prozess selbst für modernste KI eine große Hürde darstellt.

Diese meist schwer zu erkennende Grenze zwischen dem was künstliche Intelligenz leisten kann und was nicht, kann bei der Automatisierung komplexer Prozesse zu einer großen Herausforderung für Unternehmen werden. Sind die Prozesse sehr individuell, so ist der Mensch ebenfalls meist im Vorteil, da er aufgrund der vorhandenen Lebenserfahrung nur sehr wenig Informationen benötigt, um entscheiden zu können. Bei den meisten Ansätzen von KI müssen hingegen sehr große Datenmengen verwendet werden oder Modelle werden mit anderen Daten trainiert.

Komplementär statt Substitutiv

In der Vergangenheit wurde der Fokus bei der Automatisierung oft darauf gelenkt, wie man einzelne Tätigkeiten an die Maschine übergeben kann, sodass diese nicht mehr von Menschen erledigt werden mussten. In der Praxis führen die oben genannten Probleme jedoch dazu, dass viele Tätigkeiten gar nicht vollständig automatisierbar sind, sondern der Mensch weiterhin bei Problemen oder Ungenauigkeiten eingreifen muss. Man kann also sagen, dass hier der Mensch nicht ersetzt wurde, sondern dass Mensch und Maschine nebeneinander arbeiten, wobei der Mensch immer in Erscheinung tritt, wenn die Maschine nicht mehr weiter weiß.

Ein neuer Trend ist es daher, den Menschen von Anfang an als Entscheider in den Prozess mit einzubeziehen und lediglich die automatisierbaren Teile der Maschine zu überlassen. Mensch und Maschine arbeiten dabei eng verzahnt und miteinander anstatt nebeneinander. Dies ist unter dem Begriff „Workforce Augmentation“ oder auch „Hyperautomation“ bekannt. Unternehmen profitieren dabei von den Vorteilen aus beiden Welten. So ist der Mensch als leistungsfähiger Entscheider weiterhin involviert, wohingegen die Maschine gerade bei repetitiven Aufgaben im Regelfall effizienter ist. Die enge Verknüpfung von Mensch und Maschine setzt somit das gesamte Potenzial frei. Darüber hinaus ergibt sich eine Art Vier-Augen-Prinzip, wodurch Fehler schneller erkannt werden, und die Compliance der Prozesse verbessert wird.

Verknüpfung von Mensch und Maschine als Herausforderung

In der Praxis ist es jedoch eine große Herausforderung, Mensch und Maschine optimal zu verzahnen, sodass dies nur durch den Einsatz moderner Technologien gelingt. Dies beginnt schon bei den ersten Vorbereitungen eines Automatisierungsvorhabens, denn anfangs ist meist nicht klar, welche Schritte repetitiv sind und welche menschliches Entscheidungswissen voraussetzen. Daher werden neuartige Technologien wie beispielsweise Process Mining verwendet, um Prozesse datengetrieben offenzulegen (Process Discovery) und repetitive Teile automatisiert zu identifizieren.

Nachdem identifiziert wurde, an welchen Stellen des Prozesses repetitive Schritte existieren, muss sichergestellt werden, dass sich diese auch wirtschaftlich automatisieren lassen. Je kürzer ein zu automatisierender Prozessabschnitt dabei ist, desto geringer sollten die Kosten für die Erstellung einer Automatisierung sein. Müssen erst Anforderungen aufgenommen werden und die Automatisierung durch Programmierer*innen entwickelt werden, so ist die Wirtschaftlichkeit in der Praxis dann meist nicht mehr gegeben, insbesondere da gerade in mittelständischen Betrieben IT-Kapazitäten nur begrenzt zur Verfügung stehen.

Demokratisierung in der Automatisierung

Moderne Lösungen müssen daher die Möglichkeit bieten, ohne IT-Fachkräfte und ohne aufwändige Analyse Automatisierungen zu erstellen, um das Automatisierungspotenzial bis hin zu Mikroautomatisierungen auszuschöpfen. Außerdem muss sich die Lösung durch eine einfache Usability auszeichnen, damit sie keine neuen Hürden aufbaut. Die Strategie, dass selbst komplexe Technologie durch möglichst alle Mitarbeiter*innen genutzt werden kann, ist auch unter dem Ausdruck „Demokratisierung von Technologie” bekannt. Darüber hinaus sollte der Übergang zwischen Mensch und Maschine möglichst intuitiv und ohne Reibungsverluste möglich sein. Nur wird sichergestellt, dass möglichst alle repetitiven Teile durch das System automatisiert werden. Dies steigert nicht nur die Effizienz von Unternehmen, sondern verbessert auch das Arbeitsumfeld der Mitarbeiter*innen.

Fazit

Obwohl der Mensch für viele Prozesse nach wie vor unersetzlich ist, gibt es die Möglichkeit, durch den Einsatz moderner Technologien die Prozesseffizienz zu steigern. Diese Lösungen binden den Menschen aktiv in den Prozess ein und steigern somit die Produktivität und die Qualität des Arbeitsumfeldes und der Arbeit deutlich. In einer zeitgemäßen IT-Strategie darf die Berücksichtigung solcher Lösungen daher nicht fehlen.

Eric Marre ist Experte für Prozessautomatisierung und Mitgründer von aiConomix. Durch den selbstlernenden Software-Assistenten des Startups treiben Unternehmen ihre digitale Transformation voran und minimieren dabei Kosten und Risiken.

 

Bildquelle Beitragsbild: © ipopba / stock.adobe.com

Autor: Eric Marre, Experte für Prozessautomatisierung und Mitgründer von aiConomix

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